Kritik: Tracy Letts: The Minutes – Die Schlacht am Mackie Creek | Wiesbaden | Die Deutsche Bühne (2024)

Foto: Matze Vogel, Martin Plass, Jürg Wisbach, Tobias Lutze und Christoph Kohlbacher in "The Minutes: Die Schlacht am Mackie Creek" am Staatstheater Wiesbaden. © Karl und Monika Forster Text:Hans-Christoph Zimmermann, am 6. Februar 2022

Der Blick von außen: Eine Gruppe menschlicher Wesen hockt in einem Raum zusammen, während draußen der Regen sich zur Sintflut entwickelt. Als Antidot zur Naturkatastrophe versuchen die zehn Männer und Frauen krampfhaft, an den Regeln sozialer und gesellschaftlicher Organisation festzuhalten und veranstalten eine Gemeinderatssitzung. Doch es gibt vermutlich längst kein Außen mehr, das organisiert werden könnte.

Tracy Letts‘ immerhin schon fünf Jahre altes Stück „The Minutes: Die Schlacht am Mackie Creek“, lässt aber auch einen Blick von innen zu. Und dafür entscheidet sich Regisseurin (und Bühnenbildnerin) Daniela Kerck am Staatstheater Wiesbaden. Sie wählt einen konventionell-realistischen Zugriff, folgt dem Stück quasi auf dem Fuß, erzählt mehr nach, als es zu interpretieren – was für eine deutsche Erstaufführung durchaus nachvollziehbar ist. Tracy Letts‘ Stück lässt das zu, wenn auch mit Verlusten. Wie in seinem legendären Familienschlachtfest „August: Osage County“ würfelt er auch hier einen Haufen Leute in einem Raum zusammen: In Big Cherry tagt der Gemeinderat.

Die Absurdität demokratischer Ebenen

In Wiesbaden sitzt man wie eine Selbsterfahrungsgruppe im Stuhlhalbkreis, in den Teppich eingewebt das Wappen des Örtchens, im Hintergrund Scheiben, durch die man den Regen prasseln sieht. Im Zentrum steht Mr. Peel, frisch mit Familie zugezogen, anpassungsbereit, aber doch neugierig. Er versucht herauszukriegen, was es mit dem plötzlichen Verschwinden von Ratsmitglied Carp in der letzten Sitzung auf sich hat. Lukas Schrenk spielt diesen Mr. Peel mit einer Mischung aus Neugier, Naivität und gelegentlich durchbrechender bissiger Arroganz, die die Mühen der Anpassung offenbaren.

Tracy Letts zeigt im ersten Teil nicht nur ein ländliches US-Amerika, das selbst eine simple Gemeinderatssitzung noch religiös und nationalmythisch rückbindet: Man betet und leistet den Eid auf die Flagge; er führt auch die Mühen demokratischer Ebenen und ihre Verquickung mit persönlichen Interessen vor: Mr. Oldfield (Benjamin Krämer-Jensten mit fast seniler Bauernschläue) will die Benutzung einesParkplatzes auf die Tagesordnung hieven.Mr. Hanratty (Martin Plass mit emphatischer Verve) präsentiert mit Bild und Modell sowie allen Registern des Inklusionsdiskurses seinen Antrag für einen barrierefreien Springbrunnen – weil seine Schwester im Rollstuhl sitzt. Und Mr. Blake (Christoph Kohlbacher) will ein Wrestling-Event während des Big Cherry-Festivals etablieren. Tracy Letts‘ Stück lebt in diesem ersten Teil nicht nur von der Komik der Dialoge, sondern auch deren Absurdität und Bösartigkeit. Die Regie versagt sich zwar nicht die Pointen, aber durchaus deren etwas wildere Steigerungsmöglichkeiten.

Die täglich grüßt die Lebenslüge

Dass Tracy Letts‘ „The Minutes“ selbst Teil am US-Mythos hat, wie ihn Hollywood in Anknüpfung an Ibsen uns ständig ausbuchstabiert, zeigt sich im zweiten Teil mit aller Deutlichkeit: der Einzelne als „ein Volksfeind“, der gegen die kompakte Majorität um der Wahrheit willen kämpft. Mr. Peel also trotzt mit seinen bissigen Nachfragen dem alert-gewieften Bürgermeister Superba (Jürg Wisbach)und wird dabei von der unterwürfig-subversiven Protokollführerin Ms. Johnson (Lena Hilsdorf) unterstützt.

In einer Traumszene erscheint schließlich der geschasste (und vermutlich getötete) Mr. Carp und deckt die Lebenslüge von Big Cherry auf: Der in einem jährlichen Festival zelebrierte Dorf-Mythos beruht angeblich auf der Heldentat von Sergeant Otto Pym, der bei der Schlacht am Mackie Creek eine Farmerfamilie gegen den Angriff der indigenen Sioux verteidigt habe. Die Wahrheit lautet: Es waren US-Soldaten, die an den indigenen Einwohnern ein blutiges Massaker verübten (Letts spielt auf das Sand Creek Massaker von 1864 an). Hier wird es dann still im Wiesbadener Kleinen Haus. Der wohlige Schauer der Entlarvung greift in unsere von Hollywood konditionierte Gefühlsklaviatur. Wir sind ergriffen. Regisseurin Daniela Kerck lässt sich diese Chance zur Emotionalisierung nicht entgehen und Uwe Kraus als Mr. Carp (eine Art bürgerlicher Banquo) spielt das mit einer ruhig-temperierter Emphase aus.

Doch so richtig glücklich wird man damit nicht. Das liegt einerseits an Tracy Letts‘ Stück, das allzu unorganisch seine Motive verwebt: Die absurde Komik macht dem Pathos der Enthüllung Platz, nur um dann in eine große Arie des Bürgermeisters zu münden, der Peel seine Teilhabe am Komfort, am Wohlstand, an der Macht vorhält, die auf gemeinsam getragener Ausbeutung beruht. Der Rebell macht sich zwar kurz davon, kehrt dann aber reumütig in die Gemeinschaft zurück. Am Ende vollführen alle ein indigenes Ritual als Zeichen totaler Einverleibung.

Zu diesem Motivsalat kommen noch Anspielungen auf die Mafia, den Stadt-Land-Konflikt, Klimakatastrophe, den Kapitalismus und vielem mehrsowie eine leichte symbolische Glasur (die Namen der Figuren und das immer mal wieder flackernde Licht). Wie das alles zusammenzubinden ist, bleibt ein Rätsel. In Wiesbaden hat man sich für einen leicht überspielten, aber gediegenen Realismus entschieden. Das wird dem Stück aber nur teilweise gerecht. Das liegt zu guter Letzt auch am Tempo der Inszenierung. Letts sagte über sein Stück, es zeige eine 90-minütige Gemeinderatssitzung „in real time“, in Wiesbaden sind es am Ende 105 Minuten.

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